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Brief von Max und Andre Grazelie
Max und André Grazelie, geb. am 15. Dezember 1946
Für uns, die wir nach der Rückkehr unserer Eltern kurz nach dem Krieg geboren wurden, ist die Erinnerung daran, diejenige der anderen, das was man uns erzählt hat, das was wir nun auch weitergeben müssen, eine schmerzhafte Erinnerung.
Wie sollte man es uns Kindern erzählen, dieses Elend, diese Schrecken, das was sich niemand vorstellen konnte. Die erlebten Zeiten in den Lagern waren vollkommen unbegreiflich, so dass die Zeugnisse derjenigen, die aus den Konzentrationslagern zurückgekehrt waren, sogar von ihren nächsten Freunden nicht verstanden wurden. Nur die Gefährten, die im Lager waren, teilten und verstanden die Erinnerungen an die gemeinsam erlebten Schmerzen.
Als wir 20 Jahre alt waren, haben unsere Eltern uns dazu angeregt, die Wirklichkeit der Geschichte gemeinsam mit Jugendlichen zahlreicher Länder Europas während eines Aufenthalts in Ravensbrück kennen zu lernen. Alle waren Kinder von Frauen, die im KZ Ravensbrück waren. Die Vereinigung Ravensbrück hatte diese Reise organisiert und wir wurden von Persönlichkeiten der DDR empfangen. Es war eine sehr bewegende Woche, die reich an Begegnungen war.
Es vergingen Jahre bis die Berichte derjenigen, die im Konzentrationslager waren, an die Jüngsten, an Schulkinder weitergegeben wurden.
Mit ihren Worten haben sie das Unaussprechliche erzählt, um dann mit den Jugendlichen in den Dialog zu treten und Wege für die Zukunft zu suchen. Die Frauen haben versucht, sich nicht nur auf ihr persönliches Leben, so schmerzvoll es auch war, zu beziehen.
Die Toten halten Wache
Wir bewahren und geben ihre Berichte und Erinnerungen weiter.
Ihre Generationen waren in Ländern aufgewachsen, die sie schon in der Schule mit den Gedanken und Ideen des Nationalismus, der Kultur ihrer Überlegenheit, den Feind zu bekämpfen, vorbereiteten.
In den heutigen Schwierigkeiten erinnern wir uns daran, dass sie es vor 75 Jahren waren, die den Krieg und sogar Kriege überlebt haben, einen neuen Kampf für die Hoffnung, für den Frieden begonnen haben, weil sie verstanden, dass es notwendig war, die Welt zu verändern.
Ihre erste Reise nach Belzig, zu der sie eingeladen wurden, haben unsere Eltern gemeinsam unternommen. Sie zögerten und befürchteten besonders ihre eigenen Emotionen bei einem Aufenthalt in einem fremden Land. Sie trafen hier auf ein respektvolles Zuhören, einen herzlichen Empfang, wirkliche Freundschaft, was sie tief berührt hat. Ihre Begegnung mit Gerhard Dorbritz, seine Überzeugungen, seine Sorge um die historische Wahrheit, waren jedes Mal starke Momente in ihrem Leben.
Die Zeit des Ruhestandes nutzten sie, um mit großer Bewunderung die Welt zu bereisen. Von New York bis Istanbul, von der Karibik bis Israel, fühlten sie sich als Menschen, die offen waren für andere, für ihre Kulturen. Sie haben auch uns diese Offenheit und diese Neugier weitergegeben. Wir müssen weiterhin den Respekt für die Unterschiede verteidigen und gegen die Ideen der Intoleranz kämpfen, die das Misstrauen anstacheln und die Gegensätze verstärken. Es ist natürlich, glücklich zu sein und stolz auf die Region, in der wir aufgewachsen sind, auf die Philosophie, die uns geholfen hat, die Welt zu verstehen und einen Sinn im Leben zu finden. Aber das muss immer mit dem Respekt für andere, ihren Überzeugungen und ihrer Freiheit übereinstimmen. Die Unterschiede müssen uns zur Entdeckung neuer Werte und zur gegenseitigen Bereicherung des Geistes führen.
Sind auch wir wachsam, damit auf der Welt die Wege geschützt werden, die uns der Brüderlichkeit, der Solidarität und dem Frieden näher bringen.
April 2020
übersetzt von Britta Freydank
Im Bild Ehepaar Andrée und Constant Grazelie (Bildmitte) im Mai 1968 zum Empfang im Rathaus für ehemalige Gefangene