März 1944.

Du schläfst im Bett deines kleinen Kindes, als du plötzlich von Männern mit Hüten geweckt, wirst die sich im Nebenzimmer unterhalten. Sie waren bereits gekommen, um dich zu befragen, aber sie waren gegangen. 
Mama kommt ins Zimmer, um sich bei dir zu verabschieden (eigentlich um „auf Wiedersehen“ zu sagen).

Von diesem Moment an schaust und hörst du den netten Menschen zu, die sich um dich kümmern, aber du bist nichts.

Mama kommt nicht zurück, sie ist tot, und alle reden über ihr Leiden und ihr Heldentum. 
Mitten in der Pubertät bekommst du eine Last in ihrem Namen und sie hören nicht auf, sie sterben zu lassen. Sterben, weil deine Liebe zerstört wurde, und du kannst sie nie wieder Lachen hören oder mit ihr Spaß haben. Du kannst nicht aufhören, an sie zu denken, sich an sie zu erinnern!

Papa war es durch die SA verboten, in Ruhe gelassen zu werden, nachdem seine Frau verstarb, weil er für eine für die Befreiung entscheidende Operation verantwortlich war. Papa blieb groß, bescheiden und großzügig in seinen Taten, aber seine Seele wurde durch den Mord an meiner Mama zerstört.

Man wächst auf so gut man kann, man wird ein soziales Wesen, intelligent gebildet mit all seinen Eigenheiten, selbst wenn ein Wunder geschieht, aber das Herz ist voller Trauer und man selbst bleibt klein.

 

2004. 

Eines Tages erhielt ich eine Einladung von einer Außenstelle des Konzentrationslagers Ravensbrück in Belzig, indem meine Mutter starb. Widerwillig und ängstlich gehe ich das Risiko ein, dorthin zu reisen.

Ich entdecke, dass das Leben hier gegenwärtig ist. Es gibt nicht die düsteren Überreste schrecklicher Gebäude des Todes, nein, es ist eine Lichtung zu sehen und um sie herum befindet sich ein Birkenwald. In der Mitte der Lichtung befindet sich eine sehr einfache, von Eiben umgebene Stele, auf der dieser sehr beeindruckende und unglaubliche Satz eingraviert ist:

- Die Toten mahnen, die Toten fordern Verantwortung.

Im Hintergrund eine Totem-Skulptur, auf der alles, was hier geschehen ist, eingraviert ist und in einer Sonne endet. Ich erinnere mich an jenen Moment, als zwei Musiker sangen. Es war so schön, gleichwohl dieses Lied weder feierlich noch traurig nach schön war. Und eines ihrer Kinder zu einem von ihnen rannte und ihr in die Arme sprang. Nichts, nichts hätte meine Mutter besser erinnern können als diese Momente. Zum ersten Mal durchquerte ein Lichtstrahl die Erinnerung an ihren Tod.

Zum ersten Mal wurde das Leben meiner Mutter wichtiger als ihr Tod.

2008.

Mit großer Besorgnis nahm ich die Einladung zum Theaterstück „Das rote Tuch“ an. Begleitet wurde ich von meinem Neffen Geoffroy. Das Theaterstück erzählt die Geschichte vom Leben im Lager. Ich war gelähmt - - - 
Dennoch stellte ich fest, dass es den Schauspielerinnen nicht Priorität war, die Taten der Folterer von damals in den Vordergrund zu stellen. Am Ende der Aufführung gelang es mir, meinen neuen Freunden stammelnd zu entgegnen: Wir müssen es alle schaffen, das Blatt zu wenden, den Wert ihres Geistes bewahren und leben.

An diesem Tag entdeckte und verstand ich, dass es genauso schwierig ist, als Nachkomme von Tätern zu leben wie als Kind eines Opfers.

Ich beginne eine lange und obskure Reise, um Mama zu finden, durch Intuition, durch fast unbewusste Erinnerungen. 
Durch Zufall taucht an einem Tag ein Zeugnis ihres jungen Lebens auf. Nur durch Beharrlichkeit und Ausdauer von dir, liebe Béatrice und dir, lieber Geoffroy, sind die verschwundenen Notizbücher meiner Mama wiedergefunden worden, in denen sie fünfzehn Jahre lang Tagebuch führte. 
Ein Tagebuch, aus dem so viel Lebensfreude herauszulesen ist, trotz zahlreicher Schwierigkeiten in frühester Kindheit: Ihr Eheglück mit meinem Vater und uns Kindern, aber auch eine Vielzahl von Talenten, die so unerwartet wie reich sind. Unter ihnen z.B. vier oder fünf gesprochene Sprachen, fortgeschrittene Kenntnisse in Literatur, Geschichte, Kunst. In einer Zeit, in der es jungen Mädchen verboten war, zu studieren, Tennis in Turnieren zu spielen, mit Skiern und Rasen durch die unmöglichen Straßen des Jahres 1927 in einem Renault über schwindelerregende Distanzen, zusätzlich zu ihrer Fähigkeit, Fotos zu machen und zu entwickeln, zu tippen, schwierige Aufzeichnungen zu führen und das komplizierte öffentliche Leben ihres Vaters zu unterstützen, Rezepte zu erfinden. 
Vor allem aber ist da ihr Musikgeschmack, der sie lieben lässt, – wie beeindruckend das ist – Komponisten, die fast ihre Zeitgenossen sind! Wagner und Debussy. Mit Rührung beschreibt sie jede der Orgelstunden, die sie neben dem Klavierunterricht nehmen konnte.

Plus ihre unerschütterliche Großzügigkeit.

Wirst du sagen, wirst du schreiben, was du erlebt hast?
Ich hoffe, du wirst es tun, nachdem, was ich über deine Vergangenheit weiß, hast du wahrscheinlich auch immense Schmerzen erlitten, anders, aber genauso zerstörerisch. Dein "Selbstbild" könnte auch schwer verwundet worden sein, deine Talente beschnitten, umso mehr, als du infolge der Niederlage von 1945 bis 1989 unterjocht warst, ohne jede Möglichkeit des Aufstandes in einer fremden Diktatur, die, gelinde gesagt, unfreundlich war. 

Das ist es, was Sie hier im Roederhof voller Mut vollbracht, mit historischem und emotionalem Anspruch erreicht haben.

Ich möchte Ihnen herzlich danken. Wenn wir hier wieder versammelt sind, über die Vergangenheit nachdenken und versuchen, uns gegenseitig als Wesen zu verstehen, die mit der Geschichte verbunden sind. Dann sind wir es, die den Belzigern danken müssen.

Schon die Griechen sagten: gnôti seauton, erkenne dich selbst. Sind Klarheit und Wahrheit in sich selbst Quellen der Wiedergeburt? Ich weiß nicht warum, ich weiß nicht, was die Gründe sind, aber wir können alle beobachten, dass sie da sind. Und das Leben ist da.

In der Mitte der Lichtung befindet sich der von Eiben umgebene Stein, auf dem der Satz eingraviert ist, dass ich uns Sterblichen Unsterblichkeit wünsche:

Die Toten mahnen!

Werden die jüngeren Generationen unseren Weg nachvollziehen? Was können wir ihnen weitergeben, was das Leben nährt? Heute wächst neben der Stele, eine Rose. Sie heißt:

"AUFERSTEHUNG".

Ihnen vom Roederhof, die mit so viel Mut, Sachlichkeit, Großzügigkeit und Liebe handeln, spreche ich meine tiefe und lebendige Dankbarkeit aus.

Andererseits, und nach eurem besten Wissen, ihr wenigen diktatorischen Führer, Monster der Psychose, die nur in der Lage sind, Konflikte durch Zerstörung, Mord und Ermordung zu lösen, würde euch ein Schimmer in der Idiotie eures dummen Denkens erahnen lassen, dass ihr neben den gegenwärtigen Katastrophen auch in den kommenden Generationen die Trauer fortsetzt?

80 Jahre.

Anne Catherine del Marmol